Der Narr
Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde?
Das geschah so:
Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden waren - die sieben Masken, welche ich in sieben Leben verfertigt und getragen hatte.
Unmaskiert rannte ich durch die vollen Straßen und schrie: "Diebe, Diebe, die verdammten Diebe!"
Männer und Frauen lachten.
Einige liefen aus Angst vor mir in ihre Häuser.
Als ich zum Marktplatz kam, rief ein Junge von einem Hausdach: "Er ist ein Narr!"
Ich blickte empor, um ihn zu sehen: da küsste die Sonne erstmals mein bloßes Antlitz.
Zum ersten Mal küsste sie mein bloßes Antlitz, und meine Seele entflammte in Liebe zu ihr, und ich wünschte mir keine Masken mehr.
Wie in Trance rief ich: "Segen, Segen über die Diebe, die meine Masken gestohlen!"
So wurde ich zum Narren.
Und in meiner Narrheit fand ich Freiheit und Sicherheit: die Freiheit der Einsamkeit und die Sicherheit vor dem Verstanden werden.
Denn diejenigen, welche uns verstehen, versklaven etwas in uns.
(aus Khalil Gibran: Der Narr)
Urworte / Orphisch
Johann Wolfgang von Goethe 1817
ΔΑΙΜΩΝ, Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
ΤΥΧΗ, das Zufällige
Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ists bald hin-, bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.
ΕΡΩΣ, Liebe
Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder:
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.
ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung
Da ists denn wieder, wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz; und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Nur enger dran, als wir am Anfang waren.
ΕΛΠΙΣ, Hoffnung
Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen –
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!
Desiderata
Gehe gelassen inmitten von Lärm und Hast
und denke daran, wie ruhig es sein kann in der Stille.
So weit als möglich, ohne Dich aufzugeben, sei auf gutem Fuß mit jedermann.
Das, was Du zu sagen hast, sprich ruhig und klar aus
und höre andere an, auch wenn sie langweilig oder töricht sind,
denn auch sie haben an ihrem Schicksal zu tragen.
Meide die Lauten und Streitsüchtigen, sie verwirren den Geist.
Vergleichst Du Dich mit anderen, kannst Du hochmütig oder verbittert werden,
denn immer wird es Menschen geben, die bedeutender und besser sind als Du.
Erfreue Dich am Erreichten und an Deinen Plänen.
Bemühe Dich um Deinen eigenen Beruf, wie bescheiden er auch sein mag;
er ist ein fester Besitz im Wechsel der Zeit.
Sei vorsichtig bei Deinen Geschäften, denn die Welt ist voller Betrüger.
Aber lass deswegen das Gute nicht aus den Augen,
denn Tugend ist auch vorhanden.
Viele streben nach Idealen, und überall im Leben gibt es Helden.
Sei Du selbst.
Täusche vor allem keine falschen Gefühle vor.
Sei auch nicht zynisch, wenn es um Liebe geht, denn trotz aller Öde und Enttäuschung verdorrt sie nicht, sondern wächst weiter wie Gras.
Höre freundlich auf den Ratschlag des Alters und verzichte mit Anmut
auf Dinge der Jugend.
Stärke die Kräfte Deines Geistes, um Dich bei plötzlichem Unglück
dadurch zu schützen.
Quäle Dich nicht mit Wahnbildern.
Viele Ängste werden durch Müdigkeit und Einsamkeit geweckt.
Bei aller angemessenen Disziplin, sei freundlich mit Dir selbst.
Genau wie Bäume und Sterne, so bist Du ein Kind der Schöpfung.
Du hast ein Recht auf Deine Existenz.
Und auch wenn Du das nicht verstehst, entfaltet sich die Welt
gewiss nach "Gottes" Plan.
Bleibe also im Frieden mit "Gott", was auch immer er für Dich bedeutet
und was immer Deine Sehnsüchte und Mühen
in der lärmenden Verworrenheit des Lebens seien -
bewahre den Frieden in Deiner Seele.
Bei allen Enttäuschungen, Plackereien und zerronnenen Träumen
ist es dennoch eine schöne Welt.
Sei vorsichtig.
Strebe danach glücklich zu sein.
(Max Ehrmann, deutsch-amerikanischer Dichter, 1872-1945)
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